Habemus Papam
Von Johannes Paul II. zu Benedikt XVI. - Die Entscheidung im Vatikan

- Ein journalistisches Tagebuch über Sedisvakanz und Konklave 2005 - Die katholische Kirche wird nach Papst Johannes Paul II. nicht mehr so sein, wie sie vorher war. Die zutiefst beeindruckenden Demonstrationen des Glaubens, vor allem junger Menschen, die betend und singend ihren Papa Wojtyla in seinen letzten Stunden auf dem Weg ins Haus seines Vaters begleiteten, haben die Welt verändert. Der Autor lässt den Leser hautnah dabei sein, wenn er seine Arbeit als Reporter und Moderator verrichtet. Er nimmt den Leser mit hinein in den Vatikan, in den Papstpalast und hinter die Kulissen der geheimnisvollsten Wahl der Welt. Ein einzigartiges Zeitdokument.



Taschenbuch, 254 Seiten, 9,80 Euro, KIWI, Köln (2005), ISBN: 978-3-462-03648-3


LESEPROBE:
Die katholische Kirche wird nach Papst Johannes Paul II. nicht mehr so sein, wie sie vorher war. Die zutiefst beeindruckenden Demonstrationen des Glaubens, vor allem junger Menschen, die betend und singend ihren Papa Wojtyla in seinen letzten Stunden auf dem Weg ins Haus seines Vaters begleiteten, haben die Welt verändert. Rom platzte aus allen Nähten, als die Zahl derer, die dem aufgebahrten Leichnam des Papstes noch einmal die letzte Ehre erweisen wollten, stündlich stieg. Wer nicht dabei war, hat eine Atmosphäre verpasst, die nicht wiederbringbar ist. Die größte Beerdigung der Weltgeschichte ehrte einen großen Papst und bringt jetzt die Kurie in Zugzwang, den Papst der aus Polen kam, heilig zu sprechen. Unterdessen beginnt das Tauziehen der Kardinäle hinter den Mauern des Vatikans, welcher Kandidat als nächster auf den Stuhl des Heiligen Petrus gehoben werden soll. Geschwätzige Exzellenzen in roten Soutanen provozieren ein Sprechverbot vor der Weltpresse. Das macht die Spekulationen um den Nachfolger des Stellvertreter Christi auf Erden umso geheimnisvoller. Ohne gute Kontakte und heiße Drähte erfährt man nur das, was die Raaben von den regennassen Dächern Roms krächzen. Wer wird der neue Papst? Welche Anforderungen stellen die Welt und welche die Kirche? Welche Aufgaben müssen im nächsten Pontifikat diskutiert und gelöst werden? Welcher Kardinal ist geeignet, in die Fußstapfen Wojtylas zu treten und die gerade in Bewegung gekommene Jugend in die nächste Generation als Eltern zu führen. Wird es ein Übergangspapst aus Deutschland oder doch ein Lateinamerikaner, oder gar ein vatikanerfahrener Asiate? Noch nie war das Konklave so spannend und noch nie war die Frage nach dem geeignetsten Kandidaten so unklar. Es gibt keinen ?Papabile?, es könnte fast jeder werden. Aber das geänderte Wahlverfahren könnte auch einen schwachen Kompromisskandidaten auf den Heiligen Stuhl heben. Die Weltpresse erlebt eine neue Nähe, denn der Vatikan gewährt ungeahnte Einblicke, demonstriert aber auch knallharte Verschlossenheit. Dieses Buch erzählt von allem was im Vatikan und in Rom passiert, wie die Welt reagiert und wie die Spekulationen über den Nachfolger laufen. Ein journalistisches Tagebuch zwischen Kontakten in den Vatikan, dem Leben der Presse und den ganz alltäglichen Begegnungen in einer ganz besonderen Zeit: Vom Tod Johannes Paul II. bis zu dem Augenblick, wenn der neue Papst auf dem der Loggia des Petersdomes erscheint. Geschichtliche Rückblicke und aktuelle Einblicke zeichnen das Bild der katholischen Kirche in der Vergangenheit, in der Gegenwart und stellen Forderungen an die Zukunft. Der Autor ist dem verstorbenen Papst einige Male persönlich begegnet. Vielleicht trifft das auch für seinen Nachfolger zu. _________________________________________________________________________ LESEPROBE: „Buon Giorno, Signore“, rief der dickliche Rezeptionist hinter dem mächtigen Tresen hervor und lächelte. Ich verließ mit zügigem Schritt den Torausgang des Hotel Columbus in der Via della Conciliazione und steuerte ein paar Schritte weiter links die kleine Kaffee-Bar an, um mir fast im Durchmarsch einen Espresso und ein Schokohörnchen zu bestellen. Ein kleiner Kaffee am Morgen, wie ihn fast alle Italiener anstelle eines herkömmlichen Frühstücks genießen, bewirkt Wunder. Man wird tatsächlich blitzschnell wach und der eigene Körper erhöht die Betriebstemperatur. Ein „Dolce“ dazu, so nennen die Italiener jene kleinen Gebäckstückchen, die meist in den Auslagen der Glastheken in den Stehcafés haufenweise bereitliegen, und auch der Verdauungstrakt beginnt zu arbeiten. Stühle gibt es in diesen kleinen Bars nicht, denn einen Espresso trinkt man schnell, und die Bedienungen der Bars verstehen unter ‚Espresso’ auch eine schnelle Dienstleistung. 8 Uhr 56, also nichts wie weiter, denn mir blieben nur noch 4 Minuten bis zum vereinbarten Treffen am Portone di Bronzo. Es war der 11. Oktober 2004. Ein Montag. Ein typischer Tag im Oktober in Rom: strahlend blauer Himmel mit ein paar schneeweißen Wolkenfetzen, kühle frische Luft, die der Regen am Abend zuvor beschert hatte. Die Sonne war fast nicht zu ertragen, so hell und blendend war sie. Kurz bevor ich den Petersplatz erreicht hatte bemerkte ich das Kodak-Schild an einem kleinen Souvenirladen, dem letzten Shop auf der Via della Conciliazione vor dem Platz. Einen Film wollte ich noch kaufen, um die folgenden Stunden im Bild festzuhalten. Auf dem Petersplatz waren schon einige hundert Touristen unterwegs, doch bei der Weitläufigkeit des Platzes fielen die kaum auf. Ein paar der Absperrbarrieren aus graugestrichenem Holz für die Sitzkorridore bildeten eigenartige Straßenführungen über die Fläche. Man muss schon manchmal genau schauen, dass man nicht über Umwege zum angesteuerten Ziel gelangt. Am Fuß der Treppen zum Portone di Bronzo konnte ich schon von weitem Markus Schächter, den Intendanten des ZDF erkennen, denn sein weißer Dreitagebart und sein weißes Haar leuchten in der Sonne, und gleich daneben den „Außenminister“ des ZDF, der anscheinend schon nach mir Ausschau hielt, denn es war schon fast 9 Uhr. 9 Uhr war als Zeit ausgemacht, doch ich blieb ruhig und ging ohne Hast weiter, bis ich die Säulen der Bernini-Kollonaden erreicht hatte. Die Schlangen vor den Sicherheitsschleusen für die Menschen, die den Petersdom besichtigen wollten, waren recht lang, also beschloss ich, mich an den Leuten vorbei durch einen nicht erkennbaren Eingang zwischen den Barrieren in den Sicherheitsbereich vorzuarbeiten. Das war der „Eingang“ für die Mitarbeiter im Vatikan. Hier stehen in der Regel nur zwei bis drei zivile Wachleute und sehen sich die Menschen an, die mit der größten Selbstverständlichkeit zwischen den beiden halbgeöffneten Barrieren hindurchgehen, um zu ihres Büros im Apostolischen Palast zu gelangen. Gesichtskontrolle nennen sie das hier und das ist weit weniger diskriminierend gemeint, als es sich anhört. Vatikanische Polizisten und Mitglieder der Schweizer Garde kennen die meisten Gesichter und ansonsten achten sie genau auf das Verhalten und den Gesichtsausdruck eines sich nähernden Menschen. Erkennen sie ein Gesicht wieder, und können es zuordnen, kann derjenige passieren. Ich marschierte einfach durch ohne mich nach rechts oder links zu vergewissern, ob jemand etwas dagegen haben könnte und ging geradewegs auf den Intendanten zu. Der lächelte mich etwas verkniffen an, als er mich kommen sah. Nach einer kurzen Begrüßung sah ich auch seine Frau, die um die Ecke auf die Fassade des Petersdomes blickte. Frank-Dieter Freiling, der Chef für Internationale Angelegenheiten des ZDF, liebevoll ‚Außenminister’ genannt, wartete mit einer schwarzen Dokumententasche im DinA2-Format unter dem Arm und hatte gleich eine leicht zynische, aber freundlich gemeinte Begrüßung parat: “Na, die Nacht war wohl doch noch ein bisschen lang...?“, und versuchte mit metrischen Blicken die Faltentiefen um meine Augen herum auszumachen. Ich entgegnete seinem Blick in gleicher Intention und grinste breit. Frau Schächter hatte mich nun auch bemerkt und begrüßte mich freundlich. Sie schien auch etwas aufgeregt, denn sie wusste, dass das nun folgende Programm ziemlich exklusiv sein würde und für sie persönlich der wohl interessanteste Programmpunkt dieser Romreise. Während ich versuchte in meinem Körperschatten den gerade gekauften Film in den Fotoapparat einzufädeln, ging ich mit meinem Boss dem Intendanten noch einmal alle Daten des Vormittags durch. „Meinen Sie, wir könnten den Papst doch sehen?“, fragte er mich mit einem eindringlich hoffenden Blick. Es war sein großer Wunsch, Papst Johannes Paul II. einmal persönlich zu begegnen und er hatte alle Hoffnung auf meine Kontakte gesetzt. Doch dem Papst ging es in diesen Tagen so schlecht, dass es keinerlei Audienzen gab, außer mit Bischöfen, Kardinälen und Staatsleuten. Eine Ausnahme hatte es am Samstag gegeben. Die beiden freigelassenn italienischen Geiseln, 2 Frauen, die im Irak von Rebellen wochenlang festgehalten wurden, durften zum Papst. Ich hatte wirklich alles versucht, um ihm diesen Wunsch zu erfüllen, doch das Besuchsprogramm des Heiligen Vaters war seit einigen Monaten kräftig zusammengestrichen worden. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich erneut verschlechtert. Auch die morgendliche Privatmesse im päpstlichen Appartement, zu der immer eine Hand voll Gäste eingeladen wurden, gab es seit Anfang des Jahres in dieser Form nicht mehr. Also keine Chance, ihn zu treffen. Dafür hatte aber der Kardinalstaatssekretär zu einer Privataudienz eingeladen. Das war schon eine besondere Ausnahme, denn für gewöhnlich trifft der oberste Diplomat des Vatikans keine Direktoren oder Präsidenten irgendwelcher Unternehmen. Ich hatte mich auch bemüht, für den Vormittag einen Termin bei Kardinal Ratzinger zu organisieren. Kurz nach dem Aufstehen hatte ich deshalb noch einmal mit dem Privatsekretär des Kardinals telefoniert. Monsignore Gänswein, genau wie der Kardinal auch ein Deutscher, hatte mir fest zugesagt, mir noch am frühen Vormittag Bescheid zu geben, ob es zu einem Treffen kommt oder nicht. Die Anzeichen für ein Zustandekommen waren recht gut. Das erzählte ich dem Intendanten mit der Absicht, ihn ein bisschen vom Papst abzulenken, denn ein Besuch im Hause Ratzinger war aus verschiedenen Gründen von großer Bedeutung. Ich machte mir ein wenig Sorge darum, dass der Intendant mit meiner Organisationsarbeit nicht ganz zufrieden sein könnte, weil das Super-highlight nicht im Programm war: der Papst! Dabei war das, was er gleich zu sehen bekommen sollte, außergewöhnlich und mit Sicherheit nur wenigen ausgewählten Personen zugänglich. Staatschefs und Monarchen kommen ab und zu in den Genuss, durch die heiligen Hallen und Flure des Papstpalastes geführt zu werden oder gar den Bereich um die Sixtinische Kapelle betreten zu dürfen. Das hatten wir jetzt vor uns. Ein paar Minuten nach den Schlägen der Uhrglocken kam Bischof Renato Boccardo, der Reisemarschall des Papstes, durch den Portone di Bronzo, das Bronzetor. Das ist der offizielle Eingang zum Apostolischen Palast. Die beiden Schweizer Gardisten in ihren blau-gelb-roten Uniformen salutierten und der Bischof kam mit elegantem Schritt und einem jungenhaften Lächeln die Stufen hinab. Sein erkundender Blick landete auf mir. Er bestätigte das Ziel seines Suchens mit einer leicht nach oben gezogenen Augenbraue und einem kaum sichtbaren Nicken. Das einzige Erkennungszeichen, dass ein Bischof auf uns zusteuerte, war ein schlichter goldener Bischofsring, der an seiner rechten Hand blitzte. Ansonsten war er recht unauffällig in einen feinen schwarzen Anzug gehüllt. Der Abschluss des ebenfalls schwarzen Hemdes war die blütenweiße Kalkleiste, die ihn als Geistlichen kenntlich machte. So nennen Theologen diesen rundum laufenden weißen Kragen. Ich war ein paar Schritte auf ihn zugegangen und er begrüßte mich herzlich aber mit leicht offiziellen Touch. Renato Boccardo kannte ich zu diesem Zeitpunkt schon seit fast 10 Jahren und wir sind im Lauf der Zeit zu Freunden geworden, die sich ab und zu sehen und hören. Damals war er noch kein Bischof, sondern einfacher Prälat und leitete die Abteilung ‚Jugend’ des Päpstlichen Rates für die Laien. Er war außerdem einer der Zeremoniare des Papstes und in dieser Eigenschaft war ich ihm auch zum ersten Mal begegnet. Auch wenn er jetzt quasi offiziell vor mir stand, seine charmante Art gewinnend wirkte wie eh und je. Er hatte gemeinsam mit Monsignore Kühn, dem Leiter der deutschsprachigen Abteilung im Staatssekretariat, den Vormittag im Vatikan vorbereitet. Ich geleitete den Bischof ein paar Schritte herüber zu meinem Chef, seiner Frau und unserem „Außenminister“, um sie einander vorzustellen. Nun begann der offizielle Teil des Vatikanbesuchs, denn ab jetzt lief alles nach Protokoll. Wir verständigten uns auf Französisch als gemeinsame Sprache, denn der waren alle Anwesenden mächtig. Mit einem allerdings italienischen „Andiamo“ gab Bischof Boccardo den Startschuss zur Exkursion. Die Stufen hinauf und wir kamen in den Genuss des Hackenknallens und Salutierens der beiden Schweizer Gardisten. Das schafft Atmosphäre und wirkt dem beeindruckenden Erlebnis Vatikan schon einmal lautstark voraus. Vor uns lag nun die Scala Regia, die Königstreppe, die zum Fürstensaal und zum Saal der Könige führt. Lange steinerne Stufen in einem schräg ansteigenden riesigen Korridor mit mächtigen christallenen Laternen an der Kassettendecke. Doch wir nahmen eine Abkürzung gleich rechts durch ein etwas kleineres Treppenhaus, das in seinen Ausmaßen einer Königstreppe voll und ganz genügen würde. Und durch eine verglaste dunkelbraune Holzflügeltür erreichten wir den Cortile San Damaso. Ein höhergelegener, fast quadratischer Hof in der Größe eines halben Fußballplatzes, der vom Petersplatz her uneinsehbar ist. An den verschiedenen Portalen standen Schweizer Gardisten Wache. Drei Gebäudeflügel umgeben den Damasus-Hof, die Wandflächen zum Hof hin sind fast vollständig aufgelöst in Glas. Die Loggiengänge hinter den dreimannshohen Bogenfenstern verbinden auf drei Hauptetagen das Appartement des Papstes, das Staatssekretariat, einige prunkvoll gestaltete große Säle für Audienzen und verschiedene andere Büros der Präfektur des Päpstlichen Hauses miteinander. Meine Leute hielten inne und drehten sich langsam mehrfach um die eigene Achse, um diese Gebäudefluchten auf sich wirken zu lassen, während Renato Boccardo dieses und jenes erklärte. Der Damasus-Hof wirkt wie ein Raum, wie ein Kubus, der nach zwei Seiten zum Himmel hin geöffnet ist; in Richtung Süden und nach oben. Beeindruckend! Man sagt im Vatikan, nur der obere Platz am Franziskanerkloster in Assisi könnte sich mit der Atmosphäre dieses Hofes messen. „Und da wohnt der Heilige Vater“, sagte der Intendant und zeigte beeindruckt und kaum glauben wollend, dass er dem Papst jetzt in Rufweite nahe war, nach rechts in Richtung der dritten Loggia. Frank-Dieter Freiling hantierte mit der übergroßen schwarzen Tasche herum und fragte ob wir diese denn bis zur Audienz bei Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano irgendwo deponieren könnten. Renato Boccardo meinte, dass wir sie gleich jemandem im Staatssekretariat in die Hand drücken. Freiling schaute mit besorgtem Blick, als wolle er damit seiner Angst Ausdruck verleihen, der wertvolle Inhalt könnte abhanden kommen. Wir betraten den Palast durch das mittlere Portal und landeten nach dem Salut der Gardisten in einem kleinen schlichten Aufzug, den für gewöhnlich auch der heilige Vater benutzt; genauso wie alle anderen, die dieses Haus betreten oder darin arbeiten, wenn sie die riesigen Treppenhäuser nicht nutzen wollen oder können. Als Renato Boccardo einen uniformierten Diener im Aufzug fragte, ob er sich um die große Tasche kümmern könne, wurden Freilings Augen noch größer. In der Tasche befand sich ein Faksimile einer kunstvoll gestalteten Buchseite der Gutenbergbibel, eine Handarbeit, die auch als Kopie einer Seite der ersten gedruckten Bibel der Welt von nicht unbeträchtlichem Wert war. Sie sollte ein Geschenk des größten europäischen öffentlich-rechtlichen Senders aus der Gutenbergstadt Mainz an den Heiligen Vater sein. Stellvertretend für den kranken Papst wollten wir sie Kardinal Sodano übergeben. Doch nun sollte ein Hausdiener das teure Geschenk in die Hand bekommen und aufbewahren, solange wir das innere des Vatikans erkundeten. Frank-Dieter Freiling konnte sich bestimmt ausmalen, dass in diesem großen Palast mit den vielen Fluren, Sälen und Zimmern eine schwarze Tasche eben auch mal einen ganz eigenen Weg nehmen könnte. Ich machte mir keine Sorgen um den Verbleib der Bibelseite, denn der Diener war über die Audienz beim Kardinalstaatssekretär bestens unterrichtet. Protokoll ist eben Protokoll. Ich sagte meinem Kollegen, dass das schon in Ordnung gehen würde, doch erst als ihm ein leibhaftiger Bischof bedeutete, dass er sich keine Sorgen machen brauchte, gab er die große schwarze Tasche her. Um eines vorwegzunehmen: die Bibelseite war nicht wie geplant bei diesem Diener wieder zu finden, als wir zu Kardinal Sodano gehen wollten. Stattdessen war sie fein säuberlich in einem goldenen Rahmen auf einem extra herbeigeholten Tischständer im Audienzsalon des Kardinals drapiert. Die Diener und Mitarbeiter des Papstes sind einiges gewohnt, weil täglich mehr offizielle Gäste den Palast heimsuchen als in jedem anderen Regierungssitz der Welt. Wir verließen einen recht dunklen kleinen Korridor und standen in einem der Loggiengänge. Die großen Fenster vor uns, verhängt mit weißen Baumwoll-Seiden-Gardinen. Mein Blick ging nach links und ich sah, dass wir auf der Papstetage angekommen waren. Am Ende des mittleren Loggienganges im dritten Stock lag der Eingang zum päpstlichen Appartement. „Da wohnt der Papst“, sagte ich zum Intendanten, worauf er sich blitzschnell umdrehte und seinen Blick auf dem Eingang zu einer der geheimnisvollsten Dienstwohnungen der Welt ruhen ließ. Ich hatte die hölzerne Tür schon einige Male durchschritten. Meistens sehr früh am Morgen zu einer der privaten Messen, die Johannes Paul II. zum allmorgendlichen Ritual und zum Beginn seines öffentlichen Tagesablaufs gemacht hatte. Zu dieser privaten Messe werden eine Hand voll Leute vom Papst eingeladen. Meistens Bischöfe, Botschafter, Ordensobere oder private Gäste. Die Einladung dazu kommt in diesem Fall direkt von Erzbischof Stanislaw Dziwisz, dem Privatsekretär. Gegen acht Uhr am Vorabend ruft er die betreffenden persönlich an und bittet sie am nächsten Morgen um 6 Uhr 30 am großen Bronzetor zu sein. Die Heilige Messe beginnt dann um 7 Uhr und wird für jeden, der daran teilnehmen darf zu einem ganz besonderen Ereignis. Nach der Messe trifft der Papst alle, die mitgefeiert haben zu einem persönlichen Gespräch im Arbeitszimmer. Diese Begegnungen mit dem Papst gelten heutzutage in etwa so viel wie die Privataudienzen, die am Vormittag im zweiten Stock abgehalten werden. Heute blieb die Tür des Papstes für uns verschlossen. Einzig ein Gardist verriet die Bedeutung dieses Eingangs. Was sich wohl dahinter gerade abspielen mag, überlegte ich mir. Liegt der Papst im Bett und wird gerade gepflegt und versorgt, oder sitzt er in seinem eigens für seine Anforderungen umgebauten Thron-Rollstuhl und geht mit seinen beiden Sekretären Akten und Entscheidungen durch. Ich hatte plötzlich ein sehr eigenartiges Gefühl, denn bei allem was ich mir vorstellen konnte, waren doch keine der möglichen Aktivitäten im päpstlichen Appartement so, wie sie früher einmal abliefen. Über allem stand der Eindruck des Leidens des alten Kirchenoberhauptes. Jegliche Verrichtungen des Alltags waren mit Sicherheit nur mit größerem Aufwand und vor allem mit längeren Ruhepausen zwischen den einzelnen Programmpunkten möglich; das hatte man mir auch so erzählt. Aber all das blieb für uns hinter dieser Kassettentür aus mittelbraunem Holz verborgen. Bischof Boccardo führte uns nach rechts weiter, von der Wohnung weg, den Loggiengang entlang. Ein Angestellter des Hauses kam uns mit einem Müllsack entgegen, den er über den von Motiven und Mustern übersäten Marmorboden hinter sich her schleifte. Er war nicht in eine Uniform gehüllt, wie die übrigen Angestellten, sondern in ganz normale Alltagsklamotten, die ihm einige Nummern zu groß erschienen. Er passte so gar nicht in das prunkvolle Ambiente der Zentrale der katholischen Kirche. Boccardo zeigte auf die Wände gegenüber den Fenstern. Mit großen Wandbildern, die vom der Lamperie bis fast zu Decke reichten, war der gesamte Flur ausgemalt. Allein das zu malen war eine sagenhafte Leistung. Aber die Motive zeugten von noch mehr Aufwand und Wissen als die bloße Fläche. Segment für Segment waren handgemalte Karten von verschiedenen Ländern der Erde, Kontinenten oder auch einzelnen Gebieten aufgemalt. Die dritte Loggia wird „Galerie der geografischen Karten“ genannt. Die Gemälde wurden 1560 begonnen und vier Jahre später fertig gestellt. Renato Boccardo schien sich schon einige Zeit mit diesen Weltkarten beschäftigt zu haben, denn er fand schnell die Karte, die uns am meisten interessieren könnte. „Allemagne est là“, dort sei Deutschland, sagte er und wischte mit beiden Händen und gespreizten Fingern durch die Luft, als würde er diese Karte gerade imaginär vor uns ausbreiten. Ich suchte Frankfurt und Mainz. Aber damit war ich nicht allein. Alle suchten nach Mainz. Das war schnell gefunden. Ich bewegte mich etwas seitwärts und suchte nach meiner Heimat, dem Eichsfeld. Und siehe da, ich fand es recht schnell. Unterhalb des Harzes, der mit einem niedlichen Berg verzeichnet war, lag das Eichsfeld. Heiligenstadt konnte ich sehen und Mühlhausen. Ich zeigte Renato Boccardo, wo meine Heimat liegt. Ich kam nicht ganz heran, denn das Eichsfeld lag auf dieser Karte oberhalb der Reichweite meiner Arme, aber ich zeigte auf die Leine, den Fluss, der in meiner Heimatstadt entspringt und war glücklich. Bei der Besichtigung dieser Wandmalerei wurde mir der Vorteil dieses Flures klar. Das gesamte Staatssekretariat mit all seinen internationalen Abteilungen ist von Karten unseres Planeten umgeben. Wollten sich Kardinäle, Bischöfe und Mitarbeiter des Papstes über ein bestimmtes Gebiet unterhalten, sind sie einfach auf den Flur hinausgegangen und haben sich den Riesenatlas angesehen, vor dem bei jedem Bild eine kleinere Gruppe von Leuten genügend Platz hatte, um zu diskutieren und gleichzeitig zu schauen, ohne sich um ein Buch zu drängeln, so groß es jemals sein mochte. Die Wände behielten das Geheimnis über die Inhalte der Gespräche für sich. Wer weiß, über was mit Blick auf diese Landkarten alles entschieden wurde. Mancher Nuntius könnte von seinem Kardinalstaatssekretär vielleicht an einer dieser Karten den neuen Ort seines Wirkens als Botschafter des Vatikans gezeigt bekommen haben. Eine nette Vorstellung. Am Ende des mittleren Ganges stand eines der Fenster offen. Nicht das ganze Fenster, sondern nur ein kleiner Flügel und der war schon so groß, wie die normalen Fenster meiner Wohnung. Die weiße Gardine wurde vom Wind hin und her geweht und dieses Bild erinnerte mich an einen Satz, den ich noch aus meinen Theologievorlesungen im Kopf hatte. Das Zweite Vatikanische Konzil sollte die Fenster der Kirche weit aufstoßen, damit frischer Wind hineinkommen kann. Hier hatten wir ein Fenster, ein Fenster der Zentrale der katholischen Kirche, ein Fenster zur Welt. Den frischen Oktoberwind, der aus der Stadt heraufwehte, konnte man spüren und riechen. Aber es war nicht das virtuelle Fenster des Geistes des Konzils. Dennoch: die Symbolik dieses Fensters hinaus zur Welt fesselte mich. Und nicht nur mich. Als wir alle wie automatisch an das Fenster herangetreten waren, waren wir ganz begeistert. Wir sahen die Welt vor uns. Unten der Petersplatz der mit immer mehr Menschen gefüllt war, dahinter ein paar Häuser und der Gianicolo, einer der Hügel Roms, der südlich vom Vatikan gelegen ist und darüber der azurblaue Sonnenhimmel mit ein paar weißgrauen Wolken. So ungefähr sieht das aus, was der Papst sieht, wenn er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers schaut und jeden Sonntag um 12 Uhr mit den Gläubigen auf dem Petersplatz den Angelus betet. Diese Perspektive kennen die wenigsten, denn in der Regel schauen die vielen tausend Touristen oder Fernsehzuschauer auf dieses Gebäude und seine Fenster. Und die völlig ungeahnte Perspektive hat der Papst, denn wenn man von hier auf dem Platz und au die Stadt sieht, dann kommt man sich plötzlich ganz klein vor. Ob sich der Papst wohl auch so klein fühlt, wenn er von hier oben nach draußen schaut? Wir konnten uns kaum von diesem Blick Lösen. Und als wolle er uns mit einem Versprechen von diesem Fenster wegbewegen, kündigte unser Bischof uns einen noch viel spektakuläreren Blick an. Wir bogen nach links ab in den nächsten Flügel des Loggienganges und der machte einen ganz anderen Eindruck, eher wie ein langer heller Salon. Er war gotisch ausgestaltet und an den bemalten Wänden standen weit über hundert rot gepolsterte Stühle mit hohen Lehnen. Die brauche man ab und zu für Audienzen, erklärte der Bischof, als ich ihn fragte, ob das ein Wartebereich sei, denn die Stühle standen wie in einem riesigen edlen Wartezimmer einer unendlich prunkvollen Arztpraxis nebeneinander aufgereiht. Wir gingen nach rechts durch die letzte Tür dieses Flures, links durch einen kleinen Korridor, ein paar Stufen hinauf und erreichten einen sehr viel schmaleren Gang, der nur rechts ein paar kleine Fenster hatte und links ein durchgehendes Wandgemälde mit leicht blassen Farben. Der Flur war vielleicht 10 Meter lang und wirkte wie ein Verbindungsgang. „Diese Wandmalerei stammt von Schülern Michelangelos“, erklärte Bischof Boccardo, hielt seine flache Hand ein paar Zentimeter vor die Wand und zeigte anschließend auf die Bleistiftstriche. Die konnte man an manchen Stellen noch deutlich auf dem Putz sehen zwischen den Zeichnungen, die nicht alle so aussahen, als wären sie jemals fertig gestellt worden. Vielleicht hatte man ja damals Michelangelos Schülern diese exklusive Möglichkeit gegeben, sich an der Kunst der Wandmalerei zu probieren, in einem Gang, den so schnell keiner sieht und nutzt, abseits vom geschäftigen Treiben am Papsthof. Währenddessen hatte der Meister mit nur ganz wenigen handverlesenen Schülern in der Sixtinischen Kapelle zu tun, die ja nur einen Steinwurf weit entfernt lag. Sicher wären viele Kunstgeschichtsprofessoren und Studenten dieser Welt überglücklich, wenn sie nur einen Blick auf diese Arbeiten werfen könnten, aber diese Wandmalerei gehört zu den fast verborgenen Kunstschätzen des Vatikans. Die Türen und Fenster waren hier kleiner, als alle die, die wie bisher im Palast gesehen hatten. Ich schloss darauf, dass es sich womöglich um ein wesentlich älteres Gemäuer handelte, als beim Rest des Palastes. Die Mauern passten eher zu einer alten Burg, als zu einem Palast. Wir gingen durch die kleine Tür am Ende des Ganges und landeten wiederum in einem kleinen Korridor. Eine doppelflüglige Glastür entließ uns ins Freie und wir fanden uns auf einem schmalen, weniger als einen Meter breiten Steg aus Stahl wieder. Die Sonne blendete, doch was noch blendender und bezaubernder war als das Licht der Sonne, war der Blick, der sich uns jetzt bot. Wie Kinder im Spielzeugladen stürmten wir vier Deutschen die drei Stufen des Gerüstes herunter auf eine polygonal geformte gigantische Terrasse, die von einer gemauerten Klinkerbalustrade eingefasst ist. Als wollten wir all das in Besitz nehmen, was wir jetzt sehen konnten, reihten wir uns an den Rand der Terrasse und ließen unsere Blicke schweifen. Ich glaube, es ist die schönste Terrasse, die ich jemals gesehen habe. Rechts der Petersdom, zum Greifen nahe, die Figuren und Säulen der Fassade, wie Maßwerk in einer Zuckerbäckerei. Die Kuppel, zum Greifen nah und so bombastisch groß. Ich konnte zum ersten Mal auf den großen Balkon, der mittleren Loggia in der Frontfassade der Basilika sehen, auf dem der Papst immer den ‚Urbi et Orbi’ spendet, den Segen, der an Weihnachten, Ostern und Neujahr per Fernsehen in über 50 Länder der Welt übertragen wird. Ich kann mich auch noch an das Bild erinnern, als Papst Johannes Paul II. nach seiner Wahl 1978 auf diesem Balkon vom Kardinaldiakon der Welt vorgestellt wurde. Vor uns lag der Petersplatz in seiner ganzen Größe, ein Meer von Dächern und Bäumen der Ewigen Stadt dahinter. Die Hügel und die römischen Vorstädte lagen uns zu Füßen. Fast unendlich weit konnten wir bei diesem klaren Himmel sehen. Und es wirkte, als könne man von hier aus am Horizont die Krümmung der Erde mit dem bloßen Auge wahrnehmen. „Bei diesem Blick verstehe ich den Begriff der ‚Weltkirche’“, rief Frank-Dieter Freiling und strahlte. „Der Wahnsinn! Als könntest du alles sehen, die ganze Welt!“ Das war eine sehr interessante Beschreibung, des unbeschreiblichen Ausblicks. Wenn mein Körper einen Grund zum Ausschütten für Glückshormone brauchte, dann musste er jetzt genügend davon haben. Links konnten wir fast in die Fenster der Papstwohnung sehen. Ganz rechts von uns war die Sistina, die Sixtinische Kapelle mit ihrem schlichten ockerbraunen Giebel. Und als ich über mich schaute, verstand ich auch wo wir uns befanden: wir waren auf der unsichtbaren Terrasse am linken oberen Seitengiebel des Papstpalastes, oberhalb des Marienbildes, das auch nachts beleuchtet wird. Von unten glaubt man, hier wäre ein Dach. Wir blieben etwa eine viertel Stunde dort und saugten allesamt die Bilder dieser unglaublich schönen Kulisse auf, die sich vor uns aufgetan hatte. Ich nutze die Zeit, um kurz mit Bischof Boccardo zu reden. Ich fragte, ob wir noch in die Sixtinische Kapelle herüber gehen werden und die Räumlichkeiten um die bekannteste Kapelle der Welt herum besichtigen könnten. Mein Handy klingelte und ich fragte ihn, ob er die Nummer auf dem Display kennt, denn ich konnte eine italienische Kennung und eine römische Vorwahl ausmachen. Doch weder er noch ich kannten sie. Was ich erst später erfahren hatte: es war der Sekretär von Kardinal Ratzinger, der über eine geheime Nummer angerufen hatte, um die Audienz für halb eins zu bestätigen. Aber da ich die Nummer nicht kannte, nahm ich das Gespräch nicht entgegen, weil ich das Gefühl hatte, es würde die fast himmlische Stimmung dieser Minuten auf der Terrasse zerstören. Bischof Boccardo zeigte auf ein kleines Fenster in der linken seitlichen Fassade der Sistina. „Dort wird das Ofenrohr herausgeleitet, aus dem bei einer Papstwahl erst schwarzer und irgendwann dann auch weißer Rauch kommt.“ Alle Welt hatte im Herbst 1978 bei den zwei Papstwahlen bis zu vier Mal am Tag auf dieses Rohr des provisorisch in der Sixtinischen Kapelle aufgestellten Ofens gestarrt, um zu ergründen, ob die Farbe des Rauches weiß oder wieder nur schwarz war. Übrigens war sie meistens grau. War sie weiß, so hieß das, es gibt einen neuen Papst. Und dann dauerte es in der Regel eine gute halbe Stunde, bis der neue Papst auf der Benediktionsloggia erschien. Das waren im August 1978 Albino Luciani, als Papst Johannes Paul I. und im Oktober der jetzige Papst, Johannes Paul II. Was während dieser halben Stunde zwischen Konklave und Balkon passiert, davon erzählen einige Berichte und Überlieferungen. Doch wie es dort aussah, das wissen nur die Kardinäle, ein paar Assistenten des Konklaves und der neue Pontifex Maximus selbst. Wir verließen die traumhafte Terrasse und begaben uns in genau den Bereich, der bei einer Papstwahl verschlossen wird. Durch ein schmuckloses Treppenhaus wechselten wir in den zweiten Stock und schon bald waren wir wieder in prachtvollen Sälen angekommen deren Wände mit Stuck und Marmor verkleidet waren. Wir stiegen einige breite Treppenstufen nach unten und ich bemerkte die langen Rampen an den Seiten. Die waren eigens für den kranken Papst gebaut worden, um ihn per Rollsessel vom Papstpalast in den Petersdom bringen zu können, ohne auf das Papamobil angewiesen zu sein und durch den ganzen Vatikan fahren zu müssen. Dieser Weg ist auch kürzer und sicherer, aber er wird meist nur für Veranstaltungen in den Sälen genutzt. Oft fährt der Papst mit dem Fahrstuhl an der Rückseite seines Appartements nach unten in den Hof Sixtus V. Dann geht es per Papamobil durch den Damasus-Hof, durch die Höfe Papagalli, Borgia und der Sentinelli, weiter auf der Via delle Fondamenta zwischen vatikanischem Garten und den riesigen Fundamenten der Apsis der Basilika, dann über die Piazza Santa Martha, am deutschen Friedhof des Collegio Teutonico di S. Maria in Camposanto vorbei. Wenn er den Arco della Campane durchfahren hat, kommt er an der linken Seite des Petersdomes auf den Platz. Einen Bogen noch, um die befahrbare Treppenanlage zu den Bronzeportalen des Domes hinaufzukommen und erst dann ist er dort. Der Weg ist etwa dreimal so lang, als wenn man durch die Säle gehen würde. Also gibt es Rampen aus Holz und mit sandfarbenem Teppich verkleidet. Es gibt seitdem der Papst nicht mehr laufen kann und ständig auf einen Rollstuhl angewiesen ist eine Reihe von Rampen in den Bereichen, die für den Papst zugänglich sein müssen. Und wenn irgendwo noch keine ist und Stufen den Weg unterbrechen, dann kommen die Handwerker der vatikanischen Tischlerei und bauen eben eine neue Rampe. Wir befanden uns in einem großen , zweiteiligen Saal, der eigentlich nur eine Art Korridor zu sein schien. Er war groß genug, um allerhand darin veranstalten zu können, und prunkvoll genug, um ausreichend repräsentativ zu wirken. Eigentlich waren es sogar zwei Säle, wenn man den Bogendurchgang von einem in den anderen Teil betrachtete. Aber es war nicht einfach so ein Bogen mit Wand, nein, ein goldener, in Stein gehauener Vorhang wallte mehrfach gerafft von den Trennwänden um die Öffnung .Vor mir auf dem Marmorboden, der in Kassettenform gearbeitet war, war ein großes Papstwappen als Intarsie aus vielen verschiedenfarbigen Marmorstücken eingelegt. Zwei gekreuzte Schlüssel, umschlungen von einer Kordel mit Quasten; die Tiara schwebte darüber. Das Wappen hatte gut und gern zwei Meter Durchmesser. Die intensiven Farben des Steines beeindruckten mich sehr, den roten und gelben Marmor sieht man schon recht selten. Blauen erst recht. Früher müssen die Menschen viel Geschick, Zeit und Geduld gehabt haben, um allein solch ein Wappen aus dem harten Stein zu schneiden. Wenn man die Kirchen Roms besichtigt, findet man tausende Quadratmeter edelsten Marmors in den schönsten Formen und Farben. Wir bogen nach rechts ab und gelangten durch eine gewaltige Holztür in einen weiteren Saal, die ‚sala regia’. Ein Schweizer Gardist stand mutterseelenallein drinnen Wache. Für wen?, fragte ich mich. Okay, es war der Königssaal, und damit eine nicht unbedeutende Räumlichkeit, aber es sah hier nach wenig Besucherfrequenz aus. Der Gardist salutierte, weil eben ein Bischof anwesend war. Bischof Boccardo blieb inmitten des Raumes stehen und schaute auf die Wände, als wolle er auch unsere Blicke darauf lenken. Da waren riesige Wandgemälde, jedes etwa in der Größe einer Zweiraumwohnung. Und der Bischof erklärte eines nach dem anderen. Unglaublich schön gemalt waren sie; gar nicht kitschig und wenig aufdringlich. Ich fragte mich, ob sich die Gardisten, die hier aus irgendeinem Grund Wache halten müssen, die Wandgemälde ansehen, denn viel scheint hier nicht zu tun zu sein. Vielleicht gefielen manchem Uniformierten die dargestellten Schlachtszenen; etwa die Schlacht der Türken vor den Toren von Wien. Aber ich glaube, sie müssen an einer Stelle stehen, denn es könnte ja doch einmal jemand unverhofft hereinspazieren und dann würden sie vielleicht nicht dort stehen, wo sie zu sein haben. Als wir alle Bilder zu Ende besichtigt hatten, führte uns der Bischof zur nächsten riesigen Holztür. „Durch diese Tür geht es zur Sixtinischen Kapelle“, sagte er und urplötzlich hielten wir alle den Atem an, denn mit diesem Satz erschienen der Saal, die Tür und der Gardist in einem ganz anderen, ungeahnten Licht. Ich hatte zwar schon viel im Vatikan gesehen, aber bis hierher war ich auch noch nicht gekommen. „Ist das dann die berühmte Tür zum Konklave?“, fragte ich. Bischof Boccardo grinste verschmitzt und sagte in trockenem Staccato: „Das ist die Tür.“ Aha! Das ist die Tür; die sagenumwobene und viel beschriebene. Die, die hinter den Kardinälen verschlossen wird, wenn sie im Konklave einen aus ihrer Mitte zum neuen Papst wählen. Das also ist die Tür. Ich betrachtete sie und versuchte den Bischof davon abzuhalten, sie zu schnell zu öffnen, denn ich wollte den Saal noch einmal in seiner für mich nun völlig neuen Dimension betrachten. Das war also der Vorraum zum Konklave. Vielleicht standen hier Buffets mit Speisen und Getränken für die Herren Kardinäle. Sicher hielten sich hier die drei, vier Diener während der streng geheimen Wahlgänge auf. Sicher auch der Arzt und der Apotheker für medizinische Notfälle, denn bei den Purpurträgern handelt es sich zumeist nicht um junge, sportliche und kerngesunde Männer, und da kann es schon einmal vorkommen dass ein Herz zu schwach wird oder irgendein anderes Problem auftaucht. Vielleicht versammelten sich hier in den Pausen zwischen den Wahlgängen kleine Grüppchen von verbündeten Kardinälen, um sich zu beraten, wie sie denn weiter vorgehen wollten, welchen Kandidaten sie beiseite lassen und welchen sie weiter forcieren wollten. Jetzt machte auch der Gardist Sinn, denn hier war die Grenze vom öffentlichen Besucherbereich auf der anderen Seite der berühmten Tür in der Sixtinischen Kapelle zum Papstpalast hin. Spannend! Unser Bischof öffnete einen großen Flügel der hölzernen Tür. Lärm drang aus der Kapelle. Und mit dem Lärm kam uns auch eine Dunstwolke entgegen. Ich sah in die Kapelle und konnte erstmal nur Menschen erkennen und riechen. Die sixtinische Kapelle war voll gestopft mit Touristen, die schwitzten und laut redeten. Ein Ordner zischte von der Seite, um den Lärmpegel abzusenken, denn wir befanden uns schließlich nicht in einer Markthalle oder einem Stadion, sondern in einer Kirche, also einem Gottesdienstraum. Aber das schien die Leute nicht zu beeindrucken. Sicher reden die Menschen nicht nur so aufgeregt durcheinander wegen der weltberühmten Fresken von Michelangelo Buonarotti und anderen, sondern auch wegen der Dinge, die sich hier abspielen, wenn ein neuer Papst gewählt wird. Da erzählt man sich sicher auch manche halbwahre Geschichte. Bischof Boccardo deutete nach links auf eine Stelle am Boden nahe der Wand und sagte, dass dort der kleine Ofen stehen würde, wenn ein Konklave stattfindet. Ich suchte den imaginären Weg des provisorischen Ofenrohrs nach oben und schätzte, dass es das letzte Fenster an der Seite sein müsste, das wir ja auch schon von außen gesehen hatten, durch das dann die einzige sichtbare Verbindung in die wartende Welt gehen würde. Mit einem Nicken bestätigte er meinen forschenden Blick und meinen in Richtung Fenster zeigenden Finger. Es hatte keinen Zweck, sich hier länger aufzuhalten und über die Fresken zu reden, das war uns allen schnell klar. Also nahm ich an, dass wir die Kapelle gleich wieder verlassen werden. Bischof Boccardo aber sagte mir, dass wir nach vorn in Richtung Altar gehen wollen. Er ging voran und wir folgten ihm in einer Schlange hintereinander. Doch die Formation hielt nicht lange, denn Kollisionen mit den haufenweise herumlaufenden Touristen waren nicht zu vermeiden und so nahm jeder seinen eigenen Weg. Bischof Boccardo ist groß genug, dass wir ihn als Orientierung für die Richtung, in die wir zu gehen hatten, nutzen konnten. Frau Schächter ist etwas kleiner und ich dachte mir, es wäre ganz gut, wenn ich mich vor sie schieben würde, um ihr den Weg zu bahnen. Wir trafen uns in der linken Ecke der Sixtinischen Kapelle wieder und ich fragte mich was wir hier wollten, denn auch diese Zone war voll mit Menschen. Der Bischof nahm eine Absperrkordel zur Seite und winkte uns auf eine kleine Treppe herauf. Dann schloss ihm ein Ordner in dunkelblauer Uniform mit violetten Paspeln eine kleine Tür ganz in der Ecke auf. Diese Tür war mir noch nie sonderlich aufgefallen. Mit galanter Handbewegung winkte er uns durch. Ich fühlte mich sehr privilegiert, dem Pulk von Touristen entkommen zu können. Aber Moment: was war das jetzt für eine Tür? Eine Tür, die aus der Sixtina herausführt, aber nicht in Richtung Papstpalast? Ich wurde neugierig. Wir fanden uns in einem Raum wieder, der unerwartet klein war, weiß getüncht, mit Säulen und Bodenfliesen aus hellbraunem Travertin. Oben war eine schlichte Kreuzgewölbedecke in drei Abteilungen. In diesem Raum gab es verschiedene Treppen mit jeweils drei bis fünf Stufen. Geradeaus am Fenster stand eine Chaiselongue mit rotem Jaquardbezug. Die Rückenlehne hatte einen geschwungenen Höcker, wie bei einem Dromedar. Eine Chaiselangue? Hier? Ich kannte aus einigen alten Büchern die Beschreibung eines Raumes mit einem Sofa oder einer Chaiselangue, in den sich der Papst nach der erfolgten und angenommenen Wahl zum Verschnaufen und Sammeln kurz zurückziehen kann, bevor er angekleidet und dann schließlich dem Volk auf dem Petersplatz präsentiert wird. Ich hatte mir auch ein Schwarzweißfoto eingeprägt, das jenen Raum zeigt, aber dieser hier sah ganz anders aus. Ich fragte den vatikanischen Bischof, denn der musste es ja schließlich wissen. Es sagte mir leise, dass dies jener Raum sei. Das „Zimmer der Tränen und Klagen. Er sagte es ähnlich trocken, wie eben an der Tür zur Sixtina. Dann muss das Bild, das ich aus einem Buch kannte, ein ‚fake’ sein. Unglaublich! Eigentlich auch witzig, dass da jahrelang ein Sofa herum steht, nur für den Fall, dass ein neuer Papst das Bedürfnis haben sollte, ein paar Minuten darauf auszuruhen. Auf Höhe des Sofas konnte ich den Raum überblicken. Er bestand fast nur aus kleinen Treppen, Absätzen und Gesimsen und erinnerte mich eher an das Innenleben der Wartburg bei Eisenach, als an den Vatikan. Das Faszinierendste war, dass er so gänzlich anders wirkte als alles, was wir bisher in diesem Gebäudekomplex gesehen hatten. So schlicht und klein. Ein frisch gewählter Papst kommt also aus prunkvollem Ambiente, aus prominenter Runde, verehrendem Gehabe und schwerer Wahlprozedur in eine ganz andere Welt, die erstmal nicht etwa noch glanzvoller ist, sondern eher einfacher und bescheidener. Ein schöner Gedanke. Ich sog die Atmosphäre dieses Raumes noch einmal in mich auf, bevor wir ihn wieder verließen. Die Türen waren hier alle recht klein. Auch die, durch die wir nun in ein nächstes hellgelb gestrichenes Zimmer mit zurückhaltendem weißen Stuck kamen. Hier gab es Schränke mit Glastüren und ich erkannte schnell, dass in den Schränken alte Papstgewänder hingen, weiße Soutanen, reichlich verzierte Chormäntel mit Kapuzen, verschiedene Schärpen, Mitren und bestickte Pantoffeln in allen Farben. Allerhand Insignien. Ein paar der alten Gewänder waren schon reichlich ramponiert. Aber beispielsweise die Soutane von Papst Pius XII. war noch in einem tadellosen Zustand. Überall standen und hingen eine Reihe von Erinnerungen und Kunstgegenständen, die anscheinend einigen verstorbenen Petrusnachfolgern gehörten. Es mutete an, wie in einem kleinen Museum. In der linken Ecke hinter einer Vitrine stand ein kleiner Tisch, etwa 50 mal 100 Zentimeter groß. Darauf lag ein Tuch aus rotem Samt, gefasst in goldener Bordüre. Von der Tischfläche hing sorgsam in Falten gelegtes rotes Damasttuch mit Rankenwebmuster. Auf dem Tisch eine große rote aufklappbare Schreibunterlage, ein gläserner Stiftständer mit Füllhalter, ein Namensschild, das wie ein kleiner aufstellbarer Bilderrahmen aussah, zwei in Papier gefasste Rollen und zwei Mützchen; eines aus weißer Seide und eines in roter. Dieses Mützchen heißt ‚Pileolus’; das ist die Verkleinerungsform des lateinischen ‚Pileus’ und heißt soviel wie Hut, Kappe, Mütze. Mein Chef, der Intendant, hob vorsichtig und ehrfürchtig das weiße Pileolus an seinem Haltebändchen hoch, sah uns an und fragte, ob das ein echtes ist. Bischof Boccardo nahm es in die Hand und bestätigte. Dann legte er das Pileolus auf seinen alten Platz zurück und öffnete die Schreibmappe aus rotem Leder. Zum Vorschein kam ein Papier mit einigen gedruckten Worten: „ELIGO IN SUMMUM PONTIFICEM...“, und einem Feld, dass dazu gedacht war, dass man etwas hineinschreibt; also den Namen einer der Mitbrüder. Das war ein originaler Wahlzettel, wie ihn die Kardinäle zu jedem neuen Wahlgang in ihrer Mappe an ihrem Platz finden. „Ist das einer der Tische, die beim Konklave in der Sixtinischen Kapelle aufgestellt werden?“, fragte ich den Bischof. „Si“, antwortete er knapp, „und in diesen Rollen sind die chemischen Zusätze für schwarzen und weißen Rauch, wenn die Wahlzettel verbrannt werden“, fuhr er weiter fort. Die sahen aus wie kleine Teppichrollen aus Pappe, oben und unten verschlossen. Ein kleiner Kreis in schwarz oder weiß verriet den Inhalt. Nicht auszudenken, was wäre, wenn man die Markierung willentlich oder unwillentlich vertauschen würde. An solch einem Tisch sitzt also ein Kardinal und muss versuchen in möglichst verstellter Schrift den Namen einer seiner Mitbrüder in das dafür vorgesehene Kästchen zu schreiben. Lesbar natürlich. Die Klappe der Schreibunterlagenmappe könnte dabei als Sichtschutz dienen. Aber da der Tisch nicht sonderlich breit ist, kann man dem Nebenmann sicher beim Schreiben zusehen, wenn man es denn möchte. Also was wir hier zu sehen bekamen, erstaunte mich sehr. Da waren all die Utensilien und Räumlichkeiten, die im Falle einer Papstwahl im Brennpunkt weltweiten Interesses stehen. Wir befanden uns in dem Raum, in dem für den neugewählten Pontifex die neue weiße Dienstkleidung bereitgehalten wird. Dafür werden in der Regel drei unterschiedlich groß ausfallende weiße Soutanen, Schärpen und Pileoli bereitgehalten. Für den ersten Auftritt muss eine Variante passen, oder sie wird eben noch passend gemacht. Im Falle des sehr kleinen und rundlichen Angelo Giuseppe Roncalli, der den Namen Johannes XXIII. wählte, gab es ein Problem, so die Überlieferung: Keine der vorhandenen Soutanen passte ihm. Eine zu lange Soutane kann man hochbinden und die Überlappung unter der breiten Schärpe um den Bauch herum kaschieren. Papa Roncalli war einfach zu dick. Also hatte man die Soutane kurzentschlossen am Rücken längs herunter aufgetrennt, dann passte er herein. Man musste ihn ja nur von vorn sehen auf dem Balkon. Außerdem verdeckte die Mozzetta, ein auf der Brust geknöpfter Schulterumhang, den Schlitz am Rücken. So etwas passiert sicher selten, denn solche Ausnahmemaße, wie sie Angelo Guiseppe Roncalli der Patriarch von Venedig mitbrachte, sind nicht die Regel. Der päpstliche Hofschneider Gamarelli kennt die Kardinäle und ihre ungefähren Kleidergrößen und fertigt danach drei Auswahlstücke an. Wie mag es wohl dem Menschen gehen, der hier die einzelnen Räume passiert und fertig gemacht wird für den ersten Auftritt? Eine ungefähre Zeitspanne von einer halben Stunde rechnete man immer zwischen dem weißen Rauch und der Ankündigung : „habemus papam!“; „wir haben einen Papst!“ Das ist nicht viel Zeit. Vielleicht eine kurze Erholung auf der roten Chaiselangue. Und dann stehen sicher schon der Zeremoniar und seine zwei Helfer mit dem päpstlichen Ornat bereit. Wenn der Papst eingekleidet ist kommt er wieder zurück in die Sixtina und dort treten erst einmal alle Kardinäle vor ihren neuen Chef und bringen ihm ihre Ehrerbietung dar. Das nimmt bei über hundert wahlberechtigten Purpurträgern einige Zeit in Anspruch. Es klingt eher nach Stress und wenig nach Besinnung. Doch dann entdeckte ich einen kleinen Altar. Er war verhältnismäßig schlicht. Ein kaum verziertes Postament aus weißem Carrara-Marmor. An der weiß gekalkten Wand hängt in einer flachen Wandnische auf rotem Tuch ein kleines Marienbild, das nicht viel größer ist als eine Postkarte, umgeben von einem vergoldeten Strahlenkranz. Auf einer kleinen Stufe über der Tischfläche des Altares steht ein goldenes Kreuz dessen Fuß ein Minialtar ist. Rechts und links stehen sechs Leuchter für schmale Kerzen und auf dem eigentlichen Altertisch vier Heiligenreliquien in unterschiedlich gearbeiteten Monstranzen. Ein schöner Altar, schlicht, ohne monströse Aufbauten und üppige Schnörkel. Mein Blick blieb an ihm hängen, weil seine Klarheit und Ruhe so außergewöhnlich erscheinen. An diesem Altar hat ein neugewählter Papst noch einmal die letzte Möglichkeit zur Besinnung, bevor er wieder zu den Kardinälen geht und dann durch die Benediktionsaula auf den Balkon geführt wird. Hier kann er noch einmal in Ruhe Zwiesprache mit seinem Gott halten. Hier hat er noch einmal Gelegenheit, sich Gedanken zu machen, was er den wartenden und jubelnden Menschen auf dem Petersplatz und den Fernsehzuschauern in aller Welt sagen will. Viele werden genau auf seine Worte hören und jede Nuance ausloten, um zu analysieren, wie das nächste Pontifikat aussehen wird. Zwei einfache Zimmer und ein schlichter Altar sind das Letzte, was der neue Heilige Vater zu Gesicht bekommt, bevor er in ein sehr aufregendes und bewegtes neues Leben tritt. Wenn man bedenkt, dass der Altar vom alttestamentlichen Opfertisch abstammt, ist es vielleicht auch noch einmal eine sanfte Erinnerung daran, dass sein Amt als Papst, eher ein Opfer werden wird. Ein schlichter Altar und dann ein glorioser Moment.